16. Oktober 2024
Bürokratie behindert die Ausbildung der Ärztinnen und Ärzte in Österreich
Ausbildungsevaluierung 2024 der Österreichischen Ärztekammer zeigt dramatisches Missverhältnis: 51,6 Prozent der Arbeitszeit nur für Administration.
Wien (OTS) – Ein Faktor bremst und behindert die ärztliche Ausbildung, aber auch die eigentliche ärztliche Arbeit bei der Patientenbetreuung, am meisten: Die immer mehr werdende Administration und Bürokratie. Das hat die zwischen März und Mai 2024 zum zweiten Mal in Kooperation mit der ETH Zürich durchgeführte Ausbildungsevaluierung, bei der alle Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung (das heißt: alle Ärzte in Basisausbildung, Ausbildung zum Arzt für Allgemeinmedizin sowie zum Facharzt) zur Zufriedenheit mit der ärztlichen Ausbildung in Österreich befragt wurden, ergeben. Über 4.800 Ärztinnen und Ärzte in Ausbildung haben an der Umfrage teilgenommen.
„Insgesamt geben 77 Prozent der Befragten in Österreich an, dass sie sich durch administrative Auflagen in ihrer Ausbildung eingeschränkt sehen“, fasst Harald Mayer, Vizepräsident der Österreichischen Ärztekammer und Bundeskurienobmann der angestellten Ärzte, zusammen. „Dasselbe Bild haben wir bei der Frage, ob die Bürokratie auch bei der Arbeit am Patienten hinderlich ist – hier stimmen 76 Prozent zu. Das sind Werte, die bei uns in der Bundeskurie angestellte Ärzte alle Alarmglocken schrillen lassen. Seit Jahren fordern wir, dass Dokumentationsassistenten in allen Abteilungen angestellt werden müssen, die unsere Ärztinnen und Ärzte von den bürokratischen Aufgaben freispielen. Allein, es gibt seitens der Spitalsträger dazu zu wenig Umsetzungswille.“
Bürokratische Frustration
Dabei gehe es nicht nur um das Schreiben von Entlassungsbriefen, mittlerweile mache die Dokumentation, Administration und Bürokratie insbesondere bei den Ärztinnen und Ärzten in Ausbildung bereits mehr als 50 Prozent der Arbeitszeit aus. „Wenn es zum Beispiel Bettensperren gibt, verbringen unsere Ärzte im Nachtdienst Stunden nur damit, herumzutelefonieren und freie Betten für Patienten zu finden. Dazu ist eigentlich kein Arzt nötig.“ Das beschreibe auch die generelle Misere: Wegen zu wenig Personal müssen Betten gesperrt werden, das übriggebliebene Personal wiederum verstrickt sich in der Administration – eine fatale Negativspirale. Mayer: „So steigt die Frustration der Ärzte immer mehr – bis hin zum Exit aus dem Gesundheitssystem. Wir müssen gemeinsam mit der Politik und den Trägern daran arbeiten, dass nicht die überbordenden bürokratischen Aufgaben dazu führen, dass die Jungen die Lust am Arztberuf verlieren. Unsere Ärztinnen und Ärzte wünschen sich nichts mehr, als Patientinnen und Patienten zu helfen und beizustehen – und nicht, in Schreibtätigkeiten zu versinken.“
Dramatisches Missverhältnis Bürokratie – Arbeit am Patienten
Natalja Haninger-Vacariu, seit April dieses Jahres erste Kurienobmann-Stellvertreterin und Turnusärztevertreterin, ist mit dem dezidierten Ziel angetreten, den Bürokratieabbau massiv voranzutreiben. Die Zahlen der Ausbildungsevaluierung zur Modulfrage „Administration und Bürokratie“ findet sie erschreckend: „24,5 Wochenstunden werden demnach von tatsächlich geleisteten 47,4 Wochenstunden österreichweit im Schnitt für administrative Tätigkeiten oder für patientenbezogene medizinische Dokumentationsarbeiten aufgewendet. Das ist ein dramatisches Missverhältnis. Nur 17,1 Wochenstunden können zum Beispiel für klinische Untersuchungen, Visiten, Operationen oder Gespräche mit den Angehörigen genutzt werden. Das ist schlecht für die Patientinnen und Patienten und deren Versorgung, aber auch schlecht für die Ärztinnen und Ärzte, die sich in nervenaufreibenden Schreibarbeiten verstricken anstatt dem nachzugehen, wofür sie eigentlich studiert haben, nämlich ganz für die Patientinnen und Patienten da zu sein.“
Zur noch besseren Veranschaulichung: Prozentual betrachtet werden laut Ausbildungsevaluierung 2024 insgesamt 51,6 Prozent der Gesamtarbeitszeit der Jungärzte für administrative Tätigkeiten und patientenbezogene Dokumentation aufgewendet, während nur 36 Prozent für die direkte, medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten bleiben. 12,4 Prozent entfallen auf andere Tätigkeiten, die nicht diesen beiden Bereichen zuzuschreiben sind. „Das zeigt nur zu deutlich, dass es höchste Zeit für eine Entbürokratisierung der ärztlichen Arbeit ist, um ausreichend Zeit für eine qualitativ hochwertige Patientenversorgung zu haben, aber auch, um zu gewährleisten, dass unsere angehenden Mediziner die beste Ausbildung erhalten – die jetzt und hier vorliegenden Zahlen sind nicht dazu da, zu glauben, dass die jungen Menschen in Österreich den Arztberuf in seiner aktuellen Form für attraktiv halten“, befürchtet Haninger-Vacariu.
Digitale Infrastruktur muss verbessert werden
Einen Teil der dringend nötigen Entlastung könnten funktionierende, digitale Lösungen und Hilfsmittel übernehmen – die Ausbildungsevaluierung zeigt allerdings auf, dass hier in den heimischen Spitälern noch viel Luft nach oben ist: Österreichweit gab es nur die Note 4,82 (Höchstnote 6,0) bei der Frage, ob es eine zuverlässige, flächendeckende Internetverbindung gibt, mit deren Hilfe die dokumentarische, ärztliche Arbeit effizient erledigt werden kann. „Im 21. Jahrhundert darf man schon einen Wert erwarten, der nahe an 6,0 heranreicht“, fordert Bundeskurienobmann Mayer. „Ganz schlimm sind die Ergebnisse für das Burgenland und für Wien mit 4,49 – das ist inakzeptabel, dass die IT vielerorts nur mittelprächtig funktioniert.“
Noch schlechter ist die aktuelle Situation bei der Frage nach der Hardware, also ob Tablets oder Computer auf aktuellem Stand für die Arbeit zur Verfügung stehen: Hier ergibt die Ausbildungsevaluierung einen schwachen Wert von 4,17. „Dass Wien mit 3,74 hier das absolute Schlusslicht ist, müsste den Spitälern und deren IT wirklich zu denken geben. Das ist einer Bundeshauptstadt unwürdig“, befindet Haninger-Vacariu, die auch 1. Vizepräsidentin der Ärztekammer für Wien ist. „Wir werden uns dafür einsetzen, dass unsere Ärztinnen und Ärzte, wenn sie schon zu bürokratischen Aufgaben gezwungen werden, diese wenigstens mit dem neuesten technischen Equipment in ausreichender Verfügbarkeit erledigen können.“
Befreiung der Ärzteschaft – mehr Zeit fürs Arztsein
„Die bürokratischen und dokumentarischen Tätigkeiten unserer Ärztinnen und Ärzte, insbesondere im Spital, haben jedenfalls ein Ausmaß erreicht, das unsere Gesundheitsversorgung sogar gefährden kann“, konstatiert Mayer zusammenfassend. „Lasst unsere Ärzte endlich das machen, was sie können und wofür wir sie jahrelang ausgebildet haben – nämlich Ärzte sein, die sich um ihre Patienten kümmern und ausreichend Zeit haben für umfassende Gespräche, Untersuchungen, Diagnosen und Therapien. Ich fordere die Politik daher auf, das endlich auch praktisch zu unterstützen und eine Initiative zur Befreiung der Ärzteschaft von dieser überbordenden Bürokratie zu starten!“
Allgemeine Fakten zur Ausbildungsevaluierung
Im März 2024 war die zweite Auflage der größten und umfassendsten Ärzteausbildungsevaluierung in der Geschichte der Österreichischen Ärztekammer gestartet worden. In Zusammenarbeit der BKAÄ mit der Professur „Consumer Behavior“ im Department für „Health Sciences and Technology“ an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) waren Fragebögen mit Schwerpunkt auf acht verschiedene Themenfelder entwickelt worden – von der Betriebskultur über die Vermittlung von Fachkompetenz bis hin zur Führungskultur an den ausbildenden Abteilungen. Diese Fragebögen wurden von den Primarärztinnen und -ärzten sowie den ärztlichen Direktionen in den Spitälern an die Turnusärztinnen und -ärzte verteilt. Bis Mai hatten diese Zeit, sie anonym in einem vorfrankierten Antwortkuvert zu retournieren – eine Rückverfolgung ist nicht möglich. Die Rohdaten und die Fragebögen bleiben bei der ETH Zürich und werden keinesfalls herausgegeben.