19. Oktober 2024

Presserat: Etwaige Missstände im Gesundheitswesen für die Öffentlichkeit relevant
Die Vorsitzende hält zunächst fest, dass der Artikel ein Thema betrifft, das von besonders hohem Interesse für die Öffentlichkeit ist.
Wien (OTS) – Die Vorsitzende des Senats 3 hat eine Beschwerde der Senecura GmbH gegen die Zeitschrift „Dossier“ als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen (Anmerkung: Im Beschwerdeverfahren haben die Vorsitzenden der Senate die Möglichkeit, eine Beschwerde mittels Beschluss als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen – gegen diesen Beschluss kann die Beschwerdeführerin oder der Beschwerdeführer Einspruch an den Senat erheben).
In den Artikeln wurde über schwerwiegende Vorwürfe gegen die SeneCura Gruppe berichtet. Dabei ging es vor allem um einen Patienten, der in einem Pflegeheim für Seniorinnen und Senioren in Hard in Vorarlberg verstorben ist. Seine Angehörigen behaupteten, dass er nicht ausreichend Nahrung bekommen hätte und seine Wunden nicht versorgt worden wären.
Die Senecura GmbH beanstandete im Wesentlichen, dass die in den „Dossier“-Artikeln beschriebenen Vorwürfe nicht stimmen, die Stellungnahme der Beschwerdeführerin nicht berücksichtigt und der Ruf der Pflegeeinrichtung beeinträchtigt worden seien. Sie kritisierte auch, dass ein Bild des verstorbenen Mannes veröffentlicht wurde, das ihn in abgemagertem Zustand zeigt, und sah dies als Verletzung der Persönlichkeit und der Intimsphäre.
Das Aufdecken von etwaigen Missständen im Gesundheitswesen ist für den öffentlichen Diskurs von hoher Relevanz (siehe Punkt 10 des Ehrenkodex). Die Pressefreiheit reicht hier besonders weit.
Zudem merkt die Vorsitzende an, dass die Autorin der Beiträge die Beschwerdeführerin mit einem umfassenden Fragenkatalog zu dem Fall des verstorbenen Patienten konfrontiert hat. Die Beschwerdeführerin reagierte mit einem Schreiben, in dem als erstes festgehalten wurde, dass zu Einzelfällen aufgrund des Datenschutzes keine Auskunft gegeben werden könne. Im Anschluss folgte eine allgemeine Passage über das Vertrauen in die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Senecura GmbH. Schließlich wurde auch noch hervorgehoben, dass die Familie die Pflegedokumentation des verstorbenen Patienten deshalb nicht bekommen hätte, weil sie keine konkreten Gründe für die Herausgabe genannt hätte und die Persönlichkeitsrechte des Verstorbenen höherrangiger seien als die Interessen der Hinterbliebenen.
Darin sieht die Vorsitzende keinen Verstoß gegen Punkt 2.3 des Ehrenkodex, wonach Beschuldigungen bloß dann erhoben werden dürfen, wenn eine Stellungnahme der beschuldigten Institution eingeholt wurde. Die Autorin hat sich vorbildhaft verhalten, der umfassende Fragenkatalog an die Beschwerdeführerin war sehr detailliert ausgearbeitet und wurde ihr lange vor Erscheinen des Artikels übermittelt. Die konkreten Ausführungen der Beschwerdeführerin wurden auch entsprechend in den Beitrag aufgenommen.
Nach Ansicht der Vorsitzenden spielt es hingegen keine Rolle, dass der Datenschutzhinweis sowie die allgemeinen Aussagen über das Vertrauen der Beschwerdeführerinnen in das Personal nicht gebracht wurden: Die Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch darauf, dass eine Stellungnahme in vollem Umfang oder wortwörtlich veröffentlicht wird. Bei der Wiedergabe einer Stellungnahme verfügen Journalistinnen und Journalisten über einen gewissen Ermessensspielraum, der im konkreten Fall nicht überschritten wurde. Der Vorsitzenden erscheint es aus journalistischer Sicht vielmehr naheliegend, dass die Autorin auf die Veröffentlichung der allgemeinen Aussagen der Beschwerdeführerin verzichtete und sich auf die konkreten Angaben zum Fall des verstorbenen Mannes konzentrierte.
Im Printbeitrag wurde diese Argumentation der Beschwerdeführerin wiedergegeben, allerdings nicht festgehalten, dass die Beschwerdeführerin aus Datenschutzgründen keine Auskunft zu konkreten Fällen gebe. Auch die allgemeinen Aussagen über das Vertrauen in die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wurde nicht veröffentlicht.
Darüber hinaus betont die Vorsitzende, dass die Autorin die beschriebenen Missstände genau recherchiert hat. Sie hat nicht nur mit den Angehörigen des verstorbenen Patienten gesprochen, sondern auch mit weiteren Ärzten, und sich auch noch kritisch mit dem Gutachten zu dem Fall auseinandergesetzt, das die Heimaufsicht des Landes Vorarlberg in Auftrag gegeben hatte. Zudem hat sie auf weitere schwerwiegende Missstände in Zusammenhang mit einem Todesfall in einem Pflegeheim der SeneCura Gruppe in Salzburg hingewiesen.
Überdies gab es zu dem Fall in Vorarlberg auch Ermittlungen der Staatsanwaltschaft und erhebliche Vorwürfe des Vorarlberger Patientenanwalts, die die Autorin in dem Online-Folgeartikel aufgearbeitet hat. Obendrein hat die SeneCura Gruppe selbst zugegeben, dass Personalmangel in dem betroffenen Heim in Hard herrschte und die Pflegedokumentation bei dem verstorbenen Mann unvollständig war. Dass die strafrechtlichen Ermittlungen schließlich eingestellt wurden, ändert nichts daran, dass die SeneCura Gruppe massiv in der Kritik gestanden und es für die Öffentlichkeit relevant ist, darüber informiert zu werden.
Nach Auffassung der Vorsitzenden ist es für den öffentlichen Diskurs wichtig, dass Medien jenen Personen, die allenfalls Opfer von gravierenden Missständen im Gesundheitswesen geworden sind, die Möglichkeit geben, sich an die Öffentlichkeit zu wenden. Für die Leserinnen und Leser ist auch klar erkennbar, dass es sich bei den in den Beiträgen erhobenen Vorwürfen gegen SeneCura um die subjektiven Wahrnehmungen der Angehörigen bzw. um die Bewertung des Patientenanwalts handelt. Ein Verstoß gegen das Gebot, Nachrichten gewissenhaft und korrekt wiederzugeben (siehe Punkt 2.1 des Ehrenkodex), liegt somit nicht vor.
Da im vorliegenden Fall nicht von einem Verstoß gegen den Ehrenkodex auszugehen ist, hat die Vorsitzende die Beschwerde als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen. Dagegen hat die Beschwerdeführerin innerhalb der Frist von zwei Wochen keinen Einspruch erhoben!
Vor diesem Hintergrund geht die Vorsitzende auch nicht von einer Beeinträchtigung des Rufs der SeneCura Gruppe aus (Punkt 5 des Ehrenkodex). Ein Unternehmen, dem von zahlreichen Personen und Einrichtungen schwerwiegende Missstände vorgehalten werden, muss die Berichterstattung darüber hinnehmen, noch dazu, wo diese vorgehaltenen Missstände in diametralem Widerspruch zur eigentlichen Aufgabe des Unternehmens – nämlich der fürsorglichen Betreuung und Versorgung von Patientinnen und Patienten – stehen.
Das Foto, das den mittlerweile verstorbenen Patienten mit abgemagertem Oberkörper zeigt, stellt nach Meinung der Vorsitzenden weder eine Verletzung der Persönlichkeit noch der Intimsphäre im Sinne der Punkte 5 und 6 des Ehrenkodex dar. Die Angehörigen, die den Persönlichkeitsschutz des Verstorbenen postmortal wahrnehmen dürfen, haben in die Bildveröffentlichung ausdrücklich eingewilligt. Außerdem ist der Kopf des Patienten auf dem Bild nicht zu sehen, im Artikel wird auch der Nachname des Mannes immer mit dem ersten Anfangsbuchstaben abgekürzt. Des Weiteren dient die Veröffentlichung des Bildes dazu, die Öffentlichkeit über den prekären gesundheitlichen Zustand des Mannes auf eindringliche Art und Weise aufzuklären und dadurch wachzurütteln.